Grundrechte und Drittwirkung
Wen binden die Grundrechte und die sogenannte Drittwirkung
Die Grundrechte entfalten ihre Wirkung zwischen Staat und Bürger, das heißt, sie binden den Staat! Hat Euch auch schon einmal jemand vorgeworfen, seine Grundrechte beeinträchtigt zu haben? Das passiert auch gern in Diskussionen, wenn man anderer Meinung ist und damit angeblich die Meinungsfreiheit des anderen beeinträchtigt – eine Argumentation, die ich nie verstanden habe. Sofern Du nicht Beamter bist und stattlich handelst, ist das erst einmal schlichtweg Unsinn, denn die Meinungsfreiheit bindet, wie alle anderen Grundrechte auch, den Staat. Sie werden daher auch als Abwehrrechte gegen den Staat bezeichnet. Der Bürger kann sich auf diese Rechte berufen.
Also bitte beachtet immer den Grundsatz, die Grundrechte binden den Staat.
Aber es wäre nicht Rechtswissenschaft, wenn es von jeder Regel nicht auch Ausnahmen gäbe.
Diese „Ausnahme“ nennt sich Drittwirkung.
Es gibt verschiedene Formen der Drittwirkung:
- Mittelbare Drittwirkung
- Unmittelbare Drittwirkung
Die unmittelbare Drittwirkung ist recht einfach zu bestimmen, sie wird nämlich im Grundgesetz selbst erwähnt, also dort auch normiert!
Das beste Beispiel ist Art. 9 III GG. Dort wird das Recht Vereinigungen zu bilden ausdrücklich auf den Bereich Arbeitgeber/Arbeitnehmer ausgeweitet. Es gilt also direkt auch in dem Verhältnis Arbeitgeber und Arbeitnehmer und daher können die Arbeitnehmer sich auch auf Art. 9 GG berufen, wenn der Arbeitgeber versucht, Gewerkschaften in seinem Unternehmen zu verbieten.
Schwieriger ist die Mittelbare Drittwirkung. Die Grundrechte gelten eben nicht zwischen Bürger und Bürger aber die fließen doch in die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen ein, zum Beispiel durch unbestimmte Rechtsberater, die grundrechtskonform auszulegen sind oder durch Generalklauseln wie das zivilrechtliche Institut des „Treu und Glauben“.
Schwierig, nicht wahr, aber Bespiele können das besser erklären.
Diese Mittelbare Drittwirkung wurde ganz deutlich im Lüth-Urteil [BVerfG, 15.01.1958, 7 198 (204)].
Sie tritt immer dann ein, wenn die Anwendung der Grundrechte nicht unmittelbar zwischen den Bürgern stattfindet, jede die zu treffende Entscheidung aber im Lichte der Grundrechte betrachtet werden muss.
Das Lüth Urteil ging um folgenden Sachverhalt
Erich Lüth, seinerzeit Hamburger Senatsdirektor und Leiter des Presseamtes, rief dazu auf, den Film „Unsterbliche Geliebte“, gedreht unter der Regie von Veit Harlan, zu boykottieren. Harlan war unter anderem wegen des Machwerkes „Jud Süß“ berüchtigt. Herr Lüth empfand es als unerträglich, dass ein Machwerk dieses Nazi-Regisseurs unwidersprochen bejubelt werden sollte.
Die Filmproduzenten Domnick-Film-Produktion-GmbH und die Herzog-Film-GmbH erstritten gegen diesen Aufruf zunächst eine einstweilige Verfügung und obsiegten auch im Hauptsacheverfahren, weil die Gerichte in dem Boykott-Aufruf eine sittenwidrige Handlung sahen und weil Harlan ja seinerzeit wegen seiner Beteiligung an dem Machwerk „Jud Süß“ freigesprochen worden sei und untersagten damit diesen Boykottaufruf.
Herr Lüth wandte sich sodann an des Bundesverfassungsgericht. Und er obsiegte, weil das Bundesverfassungsgericht hier davon ausging, dass die Meinungsfreiheit den Boykottaufruf decke. Aber wie kommt die Meinungsfreiheit hier zu einer Wirkung zwischen den Bürgern, wo sie doch den Staat bindet.
Das ist das wichtigste bei diesem Urteil:
Inwieweit können Grundrechte auch Schutzrechte im Verhältnis von Bürger zu Bürger sein?
Das BVerfG führte dazu aus, dass es das Grundgesetz als ein „Wertesystem“ betrachte, das seinen Mittelpunkt in der sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit finde. Als solches müsse es für alle Bereiche des Rechts gelten, welches an Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung Richtlinien und Impulse aussende. Daher beeinflusse es auch das bürgerliche Recht. Einbruchstellen für die darin enthaltene Wertung seien die wertausfüllungsfähigen und -bedürftigen Begriffe und Generalklauseln des Privatrechts, bei dessen Auslegung die „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte Geltung finden müsse, sogenannte „mittelbare Drittwirkung“. Keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift dürfe in Widerspruch zum so verstandenen Wertesystem stehen, jede müsse im Geiste des Grundgesetzes ausgelegt werden. Aus Art. 1 Abs. 3 GG folgt dabei, dass neben der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt auch die Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden ist.
Alles klar?
Wahrscheinlich nicht.
Schauen wir doch einmal auf einige Paragraphen des BGB. Der Unterlassungsanspruch gegen Herr Lüth wurde auf § 826 BGB – vorsätzliche Sittenwidrige Schädigung- begründet.
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
- 826 Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung
Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.
Vielleicht nicht auf den ersten Blick aber auf den zweiten erkennt man das „Einfallstor“ der Grundrechte in das Zivilrecht. „gegen die guten Sitten verstoßenden Weise“. Was sind dann die „Guten Sitten“?
Es ist das Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, die in der Gesellschaft vorherrschende Rechts- und Sozialmoral. Aha! Und da kommt das Grundgesetz ins Spiel. Rechtsmoral. Wo, wenn nicht im Grundgesetz, ist die Rechtsmoral, das Grundlegende, als wirklich wichtige normiert? Kann eine Handlung, die in allem den Grundrechten entspricht im zivilrechtlichen Sinne „sittenwidrig“ sein?
Und so wie in § 826 BGB findet der Grundrechtskanon Eingang in viele Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches, wenn man so will durch die Hintertür, die das Bundesverfassungsgericht mit dem Lüth-Urteil aufgeschlossen hat, die mittelbare Drittwirkung.
Zum Beispiel auch hier:
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
- 242 Leistung nach Treu und Glauben
Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
Also gelten die Grundrechte dann doch „Irgendwie“ auch zwischen Bürger und Bürger, allein schon deswegen, weil sich Gesetze auch an den Grundrechten messen lassen müssen.
In diesen Sinne
Freiheitlich-Demokratisch Grüße
Ein Jurist -
Ass. Iur.
In regelmäßigen Abständen werde ich, Volljurist aus NRW, hier etwas über unsere Verfassung und vielleicht auch das eine oder andere Thema schreiben. Ich erhebe, anders als manche Berufskollegen, keinen Anspruch auf 100%-ige Richtigkeit oder Vollständigkeit. Das ist hier auch nicht möglich. Wer das möchte, begebe sich zu einer größeren Stadtbibliothek, besorge sich dort den Bleibtreu-Klein oder den Jarras-Pieroth, beides gute Kommentare zum Grundgesetz, und nehme sich dann viel Zeit, so eine Woche, wobei das eigentlich zu wenig ist, weil man sich ja auch mit Rechtssystematik beschäftigen muss, und dann hat man einen ersten Überblick. Für sachliche Kritik, sinnvolle Ergänzungen und Widerspruch bin ich immer zu haben.